Risiken und Nebenwirkungen bei Ärztemangel?
„Er war ein beeindruckender Mann, in jeder Hinsicht: Groß und kräftig gebaut, mit wilder brauner Mähne und einem markanten Gesicht. Mit über fünfzig Jahren war er noch eine Erscheinung, der die Patienten weltweit zu Füßen lagen.“ So oder ganz ähnlich schildern Arztromane aus dem Genre der Groschenhefte leitende männliche Mediziner in Krankenhäusern. Geduld und Fürsorge über jedes normale Maß hinaus und nie müde, niemals, auch nicht nach drei Blinddarmdurchbrüchen. Kein Wunder, das hier die Realität kaum mithalten kann. Nicht nur, dass rund um die Uhr sehr viel von Ärzten und Ärztinnen verlangt wird, auch für diese selbst hat der weiße Kittel im Krankenhaus deutliche Risse bekommen. In Deutschlands Kliniken fehlen aktuell bereits rund 15.000 Ärzte und Ärztinnen.
Karriere jenseits der Klinik
Einsparungszwänge der Kliniken, unflexible Arbeitszeiten, zunehmende Bürokratie und Zeitdruck in der Patientenversorgung sind nur einige der Gründe, weshalb Mediziner:innen zunehmend die Krankenhäuser verlassen oder sich erst gar nicht dort bewerben. Markant ist die Abwanderung in den nichtstationären Bereich oder in Länder, wo höhere Gehälter reizen, etwa in der Schweiz. Eine glänzende Karriere im Krankenhaus um jeden Preis – das war einmal. Die Work-Life-Balance, also die Vereinbarkeit von Privatleben, Familie und Beruf, ist auch Ärzten und Ärztinnen wichtiger geworden. Digitale Gesundheitsanbieter (Online-Beratung) sowie Pharma- und Industrieunternehmen werden zunehmend als flexiblere und unabhängigere Alternative zum Krankenhausbetrieb geschätzt. Andere bevorzugen wiederum den geregelten Dienst in einer Privatklinik oder einem MVZ. Manche wechseln nach Ausbildungsende direkt in eine Unternehmensberatung und unterstützen von dort private und gesetzliche Krankenkassen, Verbände und Arztpraxen.
Nicht nur Numerus Clausus mauert
Und der Mangel beginnt schon an den Universitäten. Zwischen 3.000 und 6.000 Medizin-Studienplätze pro Jahr müssten zusätzlich in Deutschland geschaffen werden, um allein das aktuelle Versorgungsniveau aufrechtzuerhalten (Quelle: Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, 2019). Nach wie vor ist der Numerus Clausus eine Hürde, die viele junge Menschen, die perfekt für den verantwortungsvollen Arztberuf geeignet wären, wie vor einer Mauer zurücklässt. Eine Reform der Studienzulassung, wie von der Bundesärztekammer gefordert, ist längst überfällig.
Für die Kliniken hat all dies bereits weitreichende Folgen. Nur ein Beispiel: Kann eine Fachabteilung einen fixierten Stellenschlüssel nicht mehr vorweisen, um eine Abteilung aufrecht zu erhalten, droht deren Schließung und das Haus verliert einen für die Patientenversorgung in der Region wichtigen Fachbereich. Die Abwanderung betrifft wohlgemerkt nicht nur die Ärzteschaft. Auch in kaufmännischen Positionen ist diese signifikant feststellbar. Die Gründe liegen auch hier in der hohen Arbeitsbelastung im „agilen Krankenhaus“ und in immer mehr gesetzlichen Regularien und Vorgaben, die eingehalten werden müssen.
Die HAGER Business Unit Life Sciences & Healthcare sieht noch ein weiteres Phänomen. In den Kliniken streben weniger männliche und weibliche Oberärzte die Position eines Chefarztes oder Klinikchefs an. Als wesentlicher Beweggrund hat sich hierbei die zivilrechtliche, persönliche Haftung eines Chefarztes herauskristallisiert. Eine Verantwortung, von der nachgeordnete Ärzte im Schadensfall ausgenommen sind.
„Viele Ärzte und Ärztinnen gehen den Kliniken verloren, weil die Strukturen zu rigide sind. Und sie in der Pharmaindustrie oder Beratung das Doppelte verdienen können.“
Hürden für ausländische Ärzte und Ärztinnen
Der Ärztemangel spitzt sich weiter zu. Auch außerhalb der Krankenhäuser: Wenn sich zeitnah nichts ändert, werden laut einer Studie 2035 in Deutschland rund 11.000 Hausarztstellen unbesetzt und fast 40 Prozent der Landkreise unterversorgt oder von der Unterversorgung bedroht sein (Quelle: Robert Bosch Stiftung, 2021). Lösungsansätze gibt es einige. Deren Wurzel muss jedoch sein, den Medizinernachwuchs zu fördern und den Beruf wieder attraktiver zu machen.
Dazu gehören neue Dienstplan-Regelungen und eine gerechtere Bezahlung, die nicht einzelne Fachbereiche bevorzugt. Ein wesentlicher Punkt wäre überdies, die bürokratischen Hürden abzubauen, die ausländischen Mediziner:innen (vor allem, wenn sie aus einem Nicht-EU-Land kommen) begegnen, wenn sie in deutschen Kliniken – und Praxen – arbeiten wollen. Die ausländischen Ärzte und Ärztinnen müssen ihre deutschen Sprachkenntnisse mit der Fachsprachprüfung nachweisen und sich ihre Abschlüsse für die Facharztzulassung anerkennen lassen. Ein mitunter jahrelanges und aufwendiges Verfahren, das sich verschlanken ließe. Erfahrungsgemäß wird die deutsche Allgemeinsprache wie auch die medizinische Fachsprache schnell erlernt und das Engagement ist überdurchschnittlich.
Ohne eingewanderte Ärzte und Ärztinnen – sowie generell medizinische Fachkräfte – und das hat die Corona-Pandemie wie unter einem Brennglas gezeigt, steht das Gesundheitswesen nicht nur in den Kliniken in naher Zukunft möglicherweise vor dem Kollaps. Stand heute: Bereits 56.000 der Ärzte und Ärztinnen in Deutschland haben keine deutsche Staatsangehörigkeit, das sind 13,7 Prozent der Gesamtzahl (Quelle: Sachverständigenrat für Integration und Migration, Berlin, 2022). Betrachtet man die demografische Entwicklung, wäre das deutsche Gesundheitswesen ohne diese Fachkräfte (auch in den Pflegeberufen) kaum mehr handlungsfähig.
Mehr Optionen bieten
Es sind also nicht nur effizientere Strukturen in den Krankenhäusern, mit denen man dem Ärztemangel und damit einer Versorgungslücke entgegensteuern kann. Viele Klinikärzte und -ärztinnen wollen nicht mehr in Vollzeit arbeiten, auch ihnen sollte man mehr Optionen bieten. Und schließlich müssen Arztromane neu formulieren: Patient:innen wollen dem modernen Klinikarzt nicht „zu Füßen liegen“, sondern in ihm oder in ihr einen kompetenten und motivierten Ansprechpartner finden. Der weiße Kittel ist eine Schutzkleidung und kein Statussymbol mehr.
Sie benötigen Hilfe bei der Besetzung von Ärzten? Dann kontaktieren Sie die Autoren des Artikels Herrn Dr. med. Markus Neumann, Business Unit Leiter Life Sciences & Healthcare und Michaela Bender, Manager Healthcare.