DIE GROSSE STUNDE DER DIGITALEN ZWILLINGE 

07/06/2023

Nachhaltigkeit und Compliance als strategische Entscheidung

Nachhaltigkeitsziele werden von Unternehmen noch eher als Kostenverursacher gesehen und der Mehrwert nicht selten in Frage gestellt. Dabei wird Nachhaltigkeit erst dann teuer, wenn man daran spart. So riskiert man teure Abstürze, wenn bei Produkten oder einzelnen Bauteilen der Kompass in Richtung Kinderarbeit oder kritischer CO2-Last ausschlägt. Skandale, Sanktionen und ein dauernder Imageschaden in der Öffentlichkeit sind dann meist die Folge. Das umweltfreundliche und verantwortungsvolle Bild, das Unternehmen und Konzerne von sich kommunizieren, wird vor diesem Hintergrund immer kritischer hinterfragt. Schönfärbereien von Klimabilanzen („Greenwashing“) und falsche Informationen zu vermeintlich fairen Produkten vergessen Verbraucher und Mitbewerber nicht.

SMARTE DOPPELGÄNGER SENKEN RISIKEN

In einem wirksamen – und proaktiven – Nachhaltigkeits-Risikomanagement haben Digitale Zwillinge ihre große Stunde. Sie bilden den gesamten Zyklus virtuell ab – indem sie etwa die Prozesse in einer Fertigungsanlage oder Produktionslinie darstellen – und können aus (Sensorik-)Echtzeitdaten und durch Simulation Schlussfolgerungen ziehen, die zur Entscheidungsfindung in der Unternehmensrealität beitragen. Als smarte „Doppelgänger“ erleichtern sie die Rückverfolgbarkeit in der Lieferkette und bei Produkten (beispielsweise im Fall von Kontaminationen). Überfällige Pflichten stufen sie als Risiko ein, wodurch Schäden und Rechtsrisiken abgewendet werden können. Vor allem im Handel und in der Produktion von Lebensmitteln, Arzneimitteln und Zulieferteilen der Autoproduktion spielt diese exakte virtuelle Abbildung und Rückverfolgbarkeit für eventuelle Schadensursachen bereits eine große Rolle. Immer mehr Branchen profitieren von den für sie maßgeschneiderten Digitalen Zwillingen, wenn es um ausfallsichere Arbeits- und Wirkprozesse geht. Sie sind der „Crash-Test-Dummy“ für alle möglichen Szenarien.

NACHHALTIGKEIT HAT UMSATZRELEVANZ

Nachhaltige Produkte und Dienstleistungen sind heute keine Nische mehr. Trotz noch bestehender Vorbehalte, trägt Nachhaltigkeit in den meisten Branchen und Unternehmen bereits signifikant zum Umsatz bei, sprich, Nachhaltigkeit lohnt sich. Insbesondere für entwickelnde und produzierende Unternehmen stellt dies ein wirtschaftlicher Hebel dar, der nicht ungenutzt bleiben darf. Ganzheitliche Nachhaltigkeit – eine glaubwürdige Nachhaltigkeitskommunikation ist ein Teil dessen – ist zum Wettbewerbsfaktor geworden. Ein gutes und stabiles Nachhaltigkeitsimage sowie gelebte Nachhaltigkeit im Sinne von Ressourcen-Schonung und sozialer Verantwortung macht sich bei klassischen wirtschaftlichen Kennzahlen positiv bemerkbar.

„SAUBERER“ EINKAUF

Die Tücke liegt im Detail: Heikel können auch Produkte sein, die die Unternehmen selbst nutzen. Wurden die vielen Headsets im Büro wirklich klimaneutral und entsprechend der betrieblichen Compliance, die sich streng dem Umweltschutz verpflichtet, im Ausland hergestellt, mag sich manche:r fragen. Güter, Dienstleistungen, Rechte – bei ihrer Beschaffung befolgen Unternehmen viele freiwillige Compliance-Richtlinien, bis hin zu mehr Tierschutz und Fairtrade-Zertifikaten. Transparent die Liefer- und Produktionsketten, integer die Lieferanten: Ein „sauberer“ Einkauf basiert auf Verantwortung und Sorgfaltspflicht. Stellen sich im Nachhinein Versäumnisse und Irrtümer dar, ist ein medialer Gesichtsverlust („Shitstorm“) oft nur das kleinere Übel.

RISIKOPROPHYLAXE PER KNOPFDRUCK

Zurück in die Produktion. Hier sind es Digitale Zwillinge, die Nachhaltigkeitsziele permanent überwachen. Unausgereifte Produkte und anfechtbare Herstellungsschritte in der Fabrik, die wahren Kostenverursacher, können mit dem digitalen Instrument identifiziert beziehungsweise „vorhergesehen“ werden. Außerdem lässt sich durch simulierte Stresstests die Krisenfestigkeit der Supply Chain überprüfen. In der Konsequenz machen Digitale Zwillinge Lieferketten resilienter. Wie wirkt sich beispielsweise der vorübergehende Ausfall eines zentralen Bauteils aus, dessen Lackierung nicht mehr den strengeren EU-Öko-Standards entspricht? Der Digitale Zwilling, das anerkannte Instrument zur Risikoprophylaxe und ein effizienteres Wirtschaften, spielt dann rechtzeitig per Knopfdruck alternative Handlungsoptionen durch.

BESTE FREUNDE

Der weit über die gesetzlichen Vorschriften hinaus gehende Umweltgedanke und Compliance sind oft, aber nicht zwingend deckungsgleich. Nachhaltigkeit und Compliance sind zwar ziemlich beste Freunde, aber eben keine Zwillinge. Doch wäre Nachhaltigkeit ohne Compliance und umgekehrt kaum glaubwürdig. Digitale Zwillinge, die die reale Welt mit der virtuellen verbinden, können Lieferketten- und Energieversorgungs-Compliance (Ökostrom!) sichern – und wiederum können sie CO2-Foodprint-Nachhaltigkeit im gesamten Lebenszyklus optimieren; ihr hohes Potential für die Nachhaltigkeitsbewertung spricht für sich. Digitale Zwillinge sind in der Lage, beides zusammenzuführen, vor allem dort, wo die Waagschale nicht ausgeglichen ist, etwa bei Großhandelsunternehmen und Anwendungsunternehmen mit ihrem stärkeren Fokus auf Compliance.

FAZIT: STARK AUF DÜNNEM EIS

Digitale Zwillinge sehen „alles“ – wissensstarke Teams sehen in Summe mehr. Der Faktor Mensch bleibt am Ende entscheidend. Konkret sollte das die Unternehmen veranlassen, neben dem Modellieren von passgenauen Architekturen für Digitale Zwillinge (u.a. digitale Fabriken) und weiterer Simulationstools multifunktionale Teams aufzustellen, in denen Produktions- und Logistikspezialist:innen, Jurist:innen und gegebenenfalls Chemiker:innen ihr jeweiliges Know-how komprimiert zusammenführen. Die Erfahrung beweist die Vorteile: Alle für die ökologische, ethische Unbedenklichkeit und Rechtskonformität relevanten Erkenntnisse lassen sich effektiv bündeln. Am Ende sind die Ergebnisse solcher interdisziplinären Teams rentabler als sich das die meisten Unternehmen vorstellen können. Wer nicht darin investiert, läuft Gefahr, im Akutfall zu spät zu handeln. Immer komplexer und damit anfälliger wird das Bild vom verantwortungsvollen Unternehmen. Ein identifizierter toxischer Farbstoff hier, ein bisher übersehenes dunkles Glied in der Lieferkette da: Expert:innen verschiedener Fachrichtungen müssen dann sofort auf dem „dünnen Eis“ in geübtem Teamaustausch stehen und Maßnahmen initiieren. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Echte oder vermeintliche Verfehlungen werden sofort publik und je nach Prominenz des Unternehmens millionenfach dupliziert. Selbst die beste Kommunikationsstrategie ist dann meist machtlos.

„Nachhaltigkeit, Effizienz und Resilienz müssen kein Zielkonflikt sein.“

Ingo Kasten, HAGER Executive Consulting, IT Services und Technology Solutions

Ingo Kasten, Business Unit Manager IT Services und Technology Solutions bei HAGER Executive Consulting am Standort Frankfurt/M. Er identifiziert insbesondere „Modern IT-Heads“ für die digitale Transformation und Industrie 4.0.

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