MEDIZIN. MACHT. BIG DATA.

13/02/2023

Lifesciences & Healthcare: Medizin macht Big Data

Warum die Präzisionsmedizin für alles da sein muss – und was von der Pandemie bleibt  

Der Genomforscher Prof. Dr. Alexander Dilthey untersucht, wie die Fortschritte in der Genomsequenzierungstechnologie (Next Generation Sequencing, kurz NGS) für die Generierung von biologisch-medizinischem Wissen nutzbar zu machen sind. Im Gespräch mit

Dr. med. Markus Neumann (HAGER Executive Consulting) erläutert er zukünftige Szenarien beim pandemischen Auftreten von Infektionskrankheiten und die Chance, durch die Genomsequenzierung nicht nur die Bekämpfung von multiresistenten Krankenhauskeimen zu revolutionieren.

Dr. med. Markus Neumann:

Wie wichtig die genomische Infektionsmedizin ist, hat auf breiter Linie die Corona-Pandemie bewiesen. In einem Pilotprojekt an der Universität Düsseldorf konnten Sie und Ihr Team durch NGS-Sequenzierungen, also mithilfe einer rasant schnellen und effizienten Analyse des Erbguts, Infektionscluster des Virus aufdecken und so das Zurückverfolgen von Infektionsketten verbessern. 

Prof. Dr. Alexander Dilthey:

Die Genomsequenzierung lässt sich nutzen, Infektionsketten effektiver aufzulösen. Wir konnten in der Pandemie einen ganz neuen Blick auf die Verbreitungsnetzwerke von Krankheitserregern gewinnen. Dies stellt eine Erkenntnis dar, die in der Zukunft strategisch entscheidend sein wird. Der größte Fehler wäre nämlich anzunehmen, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte – nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Allerdings sind wir mit den neuen NGS-Technologien besser vorbereitet.

Dr. med. Markus Neumann:

Das Corona-Virus SARS-CoV-2 wurde innerhalb nur weniger Wochen identifiziert. So schnell wie noch nie zuvor bei einem Virus, was einem technologischen Wunder gleicht.

Prof. Dr. Alexander Dilthey:

Mit der identifizierten Genomsequenz des Virus konnte man das Vakzin herstellen. Das hat in Deutschland und Amerika phänomenal gut funktioniert. Die Tatsache, dass wir so schnell nach dem Auftreten des Virus eine Impfung hatten, ist unmittelbar auch dem Fortschritt in der Genomsequenzierung zu verdanken. Gleichwohl gab es in der Pandemie einen starken Fokus auf die etablierten diagnostischen Methoden, weniger auf die Innovationen in der Genomsequenzierung.

Dr. med. Markus Neumann:

Das Mikrobiom, das heißt, die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die den Menschen besiedeln, kann bekanntlich das Immunsystem, den Stoffwechsel und das Hormonsystem komplex beeinflussen. Wie sinnvoll wäre die Einbeziehung seiner Wirkmechanismen in der Corona-Pandemie gewesen?

Prof. Dr. Alexander Dilthey:

Im Sinne einer individuellen personalisierten Medizin, die auf Daten zugreift, die man aus Sequenzierungen generiert, wäre dies tatsächlich enorm zukunftsweisend gewesen. Möglicherweise hat das Mikrobiom einen Einfluss auf den Verlauf von Corona-Erkrankungen, oder die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden.

Durch die neuen Sequenzierungsmöglichkeiten eröffnet sich eine Welt, in der die Wissenschaft die Mikrobiome noch besser kausal versteht, beispielsweise welche Rolle die Pilze im Zusammenspiel mit den Bakterien einnehmen. Schon heute stehen die Mikrobiome bei der Krebs-Immuntherapie mit im Fokus. Und wir wissen, dass sie im Zusammenhang mit der Entwicklung von Infektionskrankheiten zu sehen sind.  

Dr. med. Markus Neumann:

Welche Erkenntnis wird bleiben?  

Prof. Dr. Alexander Dilthey:

Die zentrale Erkenntnis über die Pandemie hinaus ist, dass es wichtig und sinnvoll wäre, die Genomsequenzierung in die Standarddiagnostik zu integrieren. Dahin müssen wir kommen. Nehmen Sie beispielsweise eine Sepsis („Blutvergiftung“). Entscheidend ist bei dieser Komplikation, die bei verschiedensten Infektionskrankheiten entstehen kann, die Frage, welcher Krankheitserreger ursächlich ist und wie man diesen am besten bekämpft. Klassischerweise steht bei einer Blutentnahme erst nach zwölf bis 48 Stunden das Ergebnis fest. So verstreicht wertvolle Zeit, denn jede Stunde Verzögerung erhöht die Sterblichkeit. In der neuen Welt der genomischen Infektionsmedizin würde man das gesamte Erbmaterial aus dem Blut sequenzieren. Mit der NGS-Technologie können die Ergebnisse bereits nach sechs Stunden vorliegen. Außerdem geben die generierten Daten in manchen Fällen auch Aufschluss über Antibiotikaresistenzen. Eine gezielte Therapie könnte damit weitaus schneller und effizienter eingeleitet werden. Eine Revolution dahingehend sehe ich auch bei der Bekämpfung von multiresistenten Krankenhauskeimen. Hier lassen sich Verbreitungswege in einem Krankenhaus – und auch zwischen verschiedenen Krankenhäusern oder Arztpraxen – zügig verifizieren und entsprechende Maßnahmen können eingeleitet werden. 

Dr. med. Markus Neumann:

Auch die neuesten Sequenzierungstechnologien werden unzählige Forschungsfelder im Bereich der Life Sciences revolutionieren. Könnte es bald eine Art Bau- oder Modulkasten für die klinische Routine geben, um Behandlungen zu individualisieren?

Prof. Dr. Alexander Dilthey:

Mit der NGS-Diagnostik steht in der Tat ein revolutionäres Tool zur Verfügung für die Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten, das die individuellen Unterschiede in den Genen, im Lebensstil, aber auch der Umwelt berücksichtigen kann. Dieser Ansatz der Präzisionsmedizin wird es ermöglichen, genau vorherzusagen, welche Behandlungs- und Präventionsstrategien für eine bestimmte Krankheit und bei welchen Personengruppen erfolgreich sein werden. Pandemische Infektionsgeschehen im Frühstadium sind sicher zu diagnostizieren und deren Verbreitung könnte verhindert werden. Ein „Modul-System“ für die klinische Routine wäre durchaus möglich. Doch bis dahin ist es noch ein Stück des Weges. Zum einen sind die Datenanalyse und die Interpretation der Befunde extrem anspruchsvoll. Ohne Software und Algorithmen sind die Daten nicht zu entschlüsseln. Außerdem braucht es eine tiefe Fachpersonalexpertise. Eine der größten Herausforderungen ist tatsächlich das Datenmanagement, sprich, die Speicherung, Sicherheit und Analyse der riesigen Datenmengen. Wir benötigen des Weiteren Qualitätsstandards sowie ethische und rechtliche Richtlinien, wie etwa bei umfassenden Genomanalysen mit den zu erwartenden Nebenbefunden umzugehen ist. Ferner ist die Frage der Kostenübernahme durch die Krankenversicherungen noch nicht geklärt. Die ersten Schritte zur breiten Anwendung der NGS-Technologien sind jedoch getan und man kann hoffen, dass sie bald ihren Weg in die medizinische Routinediagnostik finden werden.

Dr. med. Markus Neumann:

Wo gibt es ganz offensichtlich noch Defizite? 

Prof. Dr. Alexander Dilthey:

Wir müssen in Deutschland daran arbeiten, die Sequenzierungskapazität zu steigern. Die Zukunft gehört der vernetzten Diagnostik, bei der die verschiedensten Medizintechniksysteme Daten miteinander austauschen, ob Antikörperdaten oder das genetische Profil eines Patienten. In Bezug auf die Möglichkeiten der Datenintegration ist noch viel Luft nach oben, darin sind die angelsächsischen Länder bereits viel weiter. Was wir brauchen, sind moderne Konzepte für den Datenschutz. Ziel ist eine leichtere Translation („Vom Labortisch zum Bett“), das heißt, neue Forschungserkenntnisse sollten zügiger auf ihre klinische Nützlichkeit und Sicherheit evaluiert und den Patient:innen zur Verfügung gestellt werden.

Dr. med. Markus Neumann:

HAGER Executive Consulting besetzt Schlüsselpositionen, um diese genannte Translation bis hin zur Vermarktung neuer Medikamente und Lösungen zu unterstützen. Die Hersteller von Pharmaprodukten und medizinischen Geräten, ob mittelständische Unternehmen oder traditionsreiche Global Player, sind einem enormen Qualitäts- und Effizienzdruck ausgesetzt – die Konkurrenz ist riesig und der Innovationsdruck hoch. Vor diesem Hintergrund brennt in Deutschland der Kampf um Talente.

Prof. Dr. Alexander Dilthey:

In den USA und Großbritannien sind Pharma- und Biotech-Unternehmen extrem attraktive Arbeitgeber, und ein großer Teil der Absolvent:innen in den entsprechenden Fachrichtungen strebt dorthin. Künstliche Intelligenz bei der Entwicklung neuer Arzneimittel, interdisziplinäres Arbeiten und Big Data-Volumen, das verwertbares Wissen liefert, all das stellt einen hohen Anreiz für junge Talente dar.

Die Pharmabranche in Deutschland kann hier nur aufholen. In den Forschungsabteilungen benötigt man Data Scientists und Bio Data Scientists mit einer Affinität beziehungsweise einem Verständnis für personalisierte Medizin, Algorithmen und empirische Daten. Empirik, Datenintegration und Medizin wachsen zunehmend zusammen bei der Entwicklung neuer Medikamente. Sind diese Kompetenzen im Unternehmen nicht verfügbar, müssen sie durch Kooperationen mit orthogonalen Biopharma-Playern oder akademischen Instituten ins Boot geholt werden. Für eine strategische Positionierung in einem höchst komplexen Wissens-Ökosystem wie diesem sind Kooperationen schlicht unerlässlich. Schlimmstenfalls verliert man sonst international den Anschluss.

 „Next Generation Sequencing ist der einzig logische Schritt zur modernen Präzisionsmedizin.“

Prof. Dr. Alexander Dilthey, Genomforscher 

¹ Prof. Dr. Alexander Dilthey,

Jg. 1983, Professor für Genomische Mikrobiologie und Immunität an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Schwerpunkte: Bioinformatik, Big Data-Analytik und Sequenzierung. Firmengründungen in Oxford/Großbritannien und Deutschland. Der profilierte Genomforscher war während der Corona-Pandemie ein gefragter Experte. Am Düsseldorfer Universitätsinstitut für Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene leitet er ein viel beachtetes Projekt der Coronavirus-Sequenzierungen. Mit dem genetischen Fingerabdruck lassen sich Infektionsketten nachweisen („Corona-Rasterfahndung“).

² Dr. med. Markus Neumann,

HAGER Business Unit Leiter Lifesciences & Healthcare. Mehrjährige Tätigkeit als klinischer Arzt. Senior Manager im Bereich Life Sciences und Healthcare für namhafte Unternehmen im In- und Ausland. Bis 2019 Vorstandsmitglied der German Healthcare Alliance beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).

³ Next Generation Sequencing

(NGS) bezeichnet verbesserte Technologien zur DNA-Sequenzierung. Dabei kann ein komplettes, menschliches Genom innerhalb eines Tages sequenziert werden. Im Gegensatz zur klassischen Sequenzierung (nach Sanger) werden mehrere Hundert Millionen Fragmente in einer Probe simultan sequenziert. Sequenzveränderungen wie beispielsweise Mutationen werden dabei detektiert. Zeit- und Kostenaufwand sind vergleichsweise weitaus geringer.

Zu Forschungszwecken, in der klinischen Genetik, der Mikrobiologie und der Onkologie kommen NGS-Technologien bereits seit einigen Jahren zum Einsatz. Gesichert ist deren Relevanz bei der Früherkennung und dem Steuern von Infektionskrankheiten und Pandemien sowie in der Onkologie.

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