Inwieweit hat sich Corona auf die Digitalisierung der Versicherungsbranche ausgewirkt?

08/08/2020

In nachfolgendem Interview, das Martin Korn, Senior Consultant in der Business Unit Financial Services mit Dr. Robin Kiara führte, geht er auf die Digitalisierung der Versicherungswirtschaft vornehmlich im Hinblick auf die aktuelle Corona-Krise ein.

Einfluss Corona auf Versicherungsbranche

Dr. Robin Kiera gehört seit zwölf Jahren zu den Top-Versicherungsfachleuten in Deutschland und ist zudem ein absoluter Insurtech-Insider. Er ist Sprecher, Autor und Berater. Neben großen Transformationsprojekten in Unternehmen hilft er Startups bei der Skalierung und Optimierung ihrer Strukturen. Er arbeitete zuvor für Allianz, Warburg Bank und Goodgame Studios.

Welche Auswirkungen hat das Thema Digitalisierung auf den Versicherungsmarkt durch die Corona-Situation genommen?

Kiera:

Die meisten Versicherungshäuser waren in der Lage, kurzfristig ihre Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken. Allerdings gibt es Bereiche, wie beispielsweise Antragsstrecke und Schadensbearbeitung, wo Mitarbeiter präsent sein mussten und das war teilweise kniffelig in der Umsetzung.

Es gab einzelne Fälle, in denen es nicht möglich war, unterschriftsrelevante Versicherungsdokumente digital zu unterschreiben – weil man sich jahrelang dagegen gesträubt und es noch nicht umgesetzt hatte. Aber selbst das ließ sich letztendlich zügig umsetzen. Doch stellt sich auch hier die ‚Gretchenfrage‘, warum vieles so lange dauert und nur dann zügig realisiert wird, wenn es fünf nach zwölf ist.

Ja, das ist eine gute Frage. Als externer Betrachter erhält man gerne auch den Eindruck, dass die Versicherungsunternehmen mit der Unterschrift aufhören würden zu arbeiten und man oftmals sehr lange auf Reaktionen warten muss.

Kiera: Hier gibt es mittlerweile gesetzliche Vorschriften. Die Zeiten, in denen Kunden bereit sind, mehrere Wochen auf eine Reaktion zu warten, sind vorbei. Selbst Kollegen aus der Versicherungsindustrie ertragen es zum Teil nicht mehr, dass sie über irgendwelche schlecht programmierten Apps ihre Krankenversicherungsunterlagen einreichen müssen. Es muss nicht sein, dass man irre Summen für einen schlechten Service aufwendet. Mein Lieblingsbeispiel: Ich war vor ein paar Monaten – als man noch durfte – in einer Vorstandssitzung von einem großen Versicherer, da hat mir der CEO gesagt: „Wir wollen doch gar nicht, dass der Kunde anruft, das ist doch ein Geschäftsvorfall, das kostet Geld“. Mit solchen Gesprächspartnern ist es schwierig, den Kunden in den Fokus zu setzen. Das war so ein richtiger Old-School-Vorstand. Mit solchen Gesprächspartnern ist es schwierig, den Kunden in den Fokus zu setzen.

Und bei den jüngeren Vorständen – wie sieht es da aus? Sind die aufgeschlossener?

Kiera: Total. Natürlich gibt es auch dort so genannte Bedenkenträger, aber die meisten „brennen“ noch für ihre Karriere und sind jetzt im Vorstand von mittelgroßen oder kleineren Versicherern mit dem Ziel die Industrie voranzubringen. Dafür brauchen sie erfolgreiche Cases. Deshalb sind sie auch sehr aktiv, umtriebig und bereit, neue Themen anzugehen. Ich habe zudem den Eindruck, dass die Zeit für „Fake-Digitalisierung“ einfach vorbei ist.

Inwieweit hat Corona die Branche wirtschaftlich getroffen? Von außen betrachtet bekommt man nicht viel mit. Viele Kunden denken, solange sie ihre Beiträge zahlen, passiert der Branche auch nichts.

Kiera: Ja, aber das Problem ist das Neugeschäft. Es stimmt, dass es bislang keine großen Stornierungen und Insolvenzfälle gab oder gar volkswirtschaftliche Zusammenbrüche. Wie das weitergeht, werden wir in den nächsten Wochen und Monaten sehen. Weil dann noch Einbrüche im Bestandsgeschäft eintreten können. Ein weiteres Thema sind Betriebsschließungsversicherung. Auch hier gibt es Grenzen, denn manche Risiken im Leben sind nicht versicherbar, weil die Prämien zu hoch wären. Klar kann sich ein Versicherungsnehmer auch gegen Kriege oder Pandemien versichern, aber das kostet dann schier unbezahlbare Summen an Prämie im Jahr. Das System lebt schließlich davon, dass es eine Versicherungsgemeinschaft von Kunden gibt, die, wenn ein Schadensfall eintritt, alle den Schaden des einen Kunden tragen. Man kann keine Schäden versichern, die letztendlich alle treffen. Das geht nicht, das ist einfach nicht bezahlbar.

Generell lässt sich sagen, wenn man es geschafft hat, über 200 Jahre lang ein gutes Kundenportfolio zu etablieren, dann sehen die Zahlen im Neugeschäft nicht so dramatisch aus wie bei einem Gastronomen, dessen Umsatz vollkommen einbricht. Aber wenn man aus der Branche kommt, weiß man auch, dass gerade das Neugeschäft eines der wichtigsten Ziele ist, und wenn das einbricht, bringt dies auch finanzielle Probleme mit sich. Ich habe kürzlich mit einem ausländischen Versicherer gesprochen, der auch in Deutschland aktiv ist, und der sagte, er sei froh, dass seine Vertriebler in den letzten Wochen so aktiv im Online-Bereich und auf Social Media waren. Man habe kaum Umsatzeinbrüche verzeichnet. Das heißt, dass aktuell diejenigen, die nicht online aktiv sind, hilflos sind oder sogar vorm Scherbenhaufen stehen.

Das heißt, dass es denjenigen, die heute schon digital verkaufen und eine entsprechende Plattform aufgesetzt haben, besser geht als den anderen?

Kiera: Mir geht es nicht nur um die Abschlussstrecke oder um die Website, mir geht es primär auch darum, dass man als Vertriebler auf dem Radar seiner Kunden bleibt.

Wie viel macht das altbekannte Türgeschäft der Versicherungen aus? Bricht dies momentan komplett weg?

Kiera: Es bricht nicht überall weg. In manchen Bereichen ist es stark zurückgegangen. Es gibt Vermittler und Vertriebler, die auch aktuell noch gute Umsätze machen und sich angepasst haben. Andere waren in den letzten Wochen mehr mit privaten Themen als mit dem Vertriebsfokus beschäftigt. Das ist der große Unterschied. Das Neugeschäft ist auch von Versicherer zu Versicherer unterschiedlich, also von Produktlinie zu Produktlinie. Es gibt Versicherungen, die 10, 20 oder gar 90 Prozent Einbruch erlebt haben. Doch ehrlich gesagt, sollten diese Unternehmen darüber nachdenken, was sie ändern oder tun können. Auch Versicherer können sich an unterschiedliche Situationen anpassen und mit Kreativität verschiedene Vertriebsaktivitäten initiieren, ohne persönliche Präsenztermine wahrnehmen zu müssen.

Es gibt ja ganz unterschiedliche Versicherungen. Laufen denn manche Versicherungszweige momentan besser als andere?

Kiera: Ich habe gehört, dass aktuell Kranken- und Krankenzusatzversicherung ganz gut laufen, weil die Leute sensibilisiert sind. Es gibt auch Versicherungsmakler, die in den letzten Wochen noch Geschäfte abgeschlossen haben und bei InsureTech-Unternehmen, einreichten und somit plötzlich Rekordmonate verbuchten. Dieses Beispiel zeigt, dass die aktuelle Situation auch Chancen bietet und gute Versicherer Geschäfte machen können.

Bei meiner betrieblichen Altersvorsorge bekomme ich weiterhin alles per Post. Mir wurde zwar ein digitaler Zugang eingerichtet, aber trotzdem bekomme ich noch regelmäßig Briefe.

Kiera: Das ist ein gutes Beispiel. Das ist genau das, was Kunden heute einfach nicht mehr tolerieren. Aber das bietet auch eine riesige Chance. Versicherer gewinnen ihre Kunden heute nicht mehr nur über den Preis, sondern über zusätzliche digitale Services. Im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge könnte man den Kunden zum Beispiel in die Lage versetzen, sein Vermögen zu analysieren oder dieses gar aufzubauen. Die Möglichkeiten sind unendlich, aber dafür muss man auch etwas tun.

Gibt es Versicherungen, die tatsächlich schon komplett digital arbeiten und bei denen man diese überflüssigen Kosten nicht mehr mittragen muss?

Kiera: Da gibt es einige. Je nach Tochtergesellschaft unterschiedlich. Unter den großen Anbietern machen einige das schon recht gut. Ich kenne auch Unternehmen, die komplett digitalisiert sind. Aber die haben bereits vor fünf bis acht Jahren angefangen, ihre IT-Systeme radikal auszutauschen, bevor es überhaupt das Wort InsureTech gab.

Da ist die Datensicherheit wieder ein Thema. Man kann ja keine Altersvorsorge-Dokumente per E-Mail schicken.

Kiera: Aber das ist doch nicht das Problem des Kunden, sondern des Versicherers. Einen schlechten analogen Prozess in einen schlechten digitalen Prozess umzuwandeln, kann doch nicht die Antwort auf ein verändertes Kundenverhalten sein. In der Bankenbranche gibt es Online-Banking und sogar Apps, mit denen sich Geld überweisen lässt, wieso sollte dies nicht auch in der Versicherungsbranche möglich sein?

Inwieweit ist die VAIT (Versicherungsaufsichtliche Anforderungen an die IT) ein Treiber für die Versicherung?

Kiera: Die BaFin ist kein ‚Innovationshinderer‘ – im Gegenteil, die BaFin vergibt fleißig Lizenzen an neue Marktteilnehmer und hilft diesen auch. Dr. Grund hat unzählige Male öffentlich unterstrichen. Im Fokus der Bafin steht die Sicherheit und die Mehrwerte für den  Kunden, und nicht die Aufrechterhaltung verkrusteter Strukturen. Die Bafin redet nicht nur, sondern – ein Blick auf das Thema Pensionskassen zeigt es – handelt auch ihren Äußerungen entsprechend. Das scheint aber noch nicht bei allen Entscheidern angekommen zu sein.

Kiera: An dieser Stelle auch eine Frage von meiner Seite. Wie ist denn der Ansatz, wenn es darum geht, Executives reinzubringen? Werden Kandidaten von anderen Versicherungshäusern abgeworben oder von außerhalb gesucht?

In den meisten Technologiebereichen suchen wir als Executive Search Beratung Kandidaten von außerhalb. Die sind in der Regel nicht in der Versicherungswirtschaft zu finden. Wenn wir Leute aus dem fachlichen Umfeld haben, müssen die von einer anderen Versicherung kommen. Allerdings heißt es häufig ‚Bringen Sie uns jemand mit frischen Ideen‘ – nun, die gibt es nicht, weil sich die Versicherungswirtschaft vielfach nicht wirklich weiterentwickelt hat. Mein Bild von der Versicherungswirtschaft: Die vorherrschende Mentalität ist mindestens zehn, 15 oder 20 Jahre überfällig.

Wenn in der Vergangenheit ein Kandidat im Bankenumfeld die Should- oder Must-Haves nicht erfüllt hat, war er draußen. Das trauen sich die Banken heute nicht mehr. Mittlerweile ist bekannt, dass die Branche gelitten hat und man bestimmte Kompromisse eingehen muss. Und sie wissen auch, dass man fachliche Lücken mit Fort- und Weiterbildung füllen kann. Mit anderen Worten, wir können zwar digitale Experten identifizieren, aber die haben meist kein Versicherungs-Know-how. Dies könnte man potenziellen Kandidaten zwar beibringen, aber häufig scheitert es an der Bereitschaft sowie Flexibilität und damit stehen sie sich selbst wieder im Weg. In der Konsequenz bleiben Vakanzen häufig bis zu zwei Jahre unbesetzt, bis ein möglicher Wunschkandidat eruiert wird. Doch in diesen zwei Jahren hätte man auch einem Quereinsteiger die Chance bieten können, ihn auszubilden, und von seinen frischen Ideen profitieren können. Hier ist die aktuelle Einstellung der Banken schon weiter als die der Versicherungsbranche – im IT-Bereich.

 

Fazit:

Es gibt noch immer einige Versicherungshäuser, die zwar in der Corona-Pandemie den Wechsel ins Homeoffice hinbekommen haben, aber im Bereich der digitalen Antragsstrecke und Kundenapplikationen noch weit entfernt von der möglichen Digitalisierung sind oder Schwierigkeiten haben, Innovationen zu fördern, weil sie dafür kein Budget bereitstellen oder es meinen selbst besser zu können. Vielleicht auch deshalb, weil sie sich vor der ein oder anderen Investition scheuen oder weil sie mit der Übernahme eines InsureTech Unternehmens liebäugeln und da Fehlinterpretationen in ihren eigenen Möglichkeiten haben. Leider ist die Branche noch nicht komplett im digitalen Zeitalter angekommen. Es gibt einige kleinere und mittelständische Unternehmen, die das Thema Digitalisierung agil und mit Kreativität umgesetzt haben. Leider fehlt diese Eigenschaft bei vielen großen Häusern.

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