Industrie 4.0 ist längst Realität – doch viele Unternehmen stecken noch in Version 2.5. Statt Digitalisierung strategisch zu denken, wird oft nur an einzelnen Stellschrauben gedreht. KI, Robotik und vernetzte Systeme zeigen, wie Produktion schneller, effizienter und intelligenter laufen kann. Warum der Mittelstand zögert, welche IT-Profile gefragt sind – und weshalb die Industrie ohne Datenkompetenz keine Zukunft hat, erklärt Martin Krill von HAGER Executive Consulting im Interview.

Herr Krill, Sie kritisieren, dass sich die Industriepolitik noch stark an der Sicherung von Arbeitsplätzen orientiert, obwohl längst KI und Automatisierung viele klassische Prozesse übernehmen könnten. Woran liegt dieses Festhalten an alten Strukturen?
Die Logik der Vollbeschäftigung ist in Deutschland tief verankert – historisch, politisch, aber auch emotional. Industriearbeitsplätze gelten als stabilisierender Faktor für Wohlstand und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das ist nachvollziehbar, aber in der heutigen technologischen Realität zunehmend dysfunktional. In einer Zeit, in der KI-Systeme ganze Prozessketten analysieren, steuern und optimieren können, sollten wir den Fokus stärker auf Wertschöpfung, Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft legen. Die Vorstellung, dass Investitionen nur dann legitim sind, wenn sie klassische Arbeitsplätze erhalten, greift zu kurz.
Welche konkreten Technologien treiben aus Ihrer Sicht aktuell den Wandel der industriellen Wertschöpfung am stärksten?
Der tiefgreifendste Wandel geht derzeit von vernetzten, selbstlernenden Produktionsanlagen aus. Besonders relevant sind KI-gestützte Produktionssteuerungen, kollaborative Robotik, Edge-Computing in Echtzeitprozessen und automatisierte Logistiksysteme. Diese Technologien ermöglichen nicht nur effizientere Abläufe, sondern auch ganz neue Formen der Dezentralisierung und Skalierung.
Ein Vorzeigeprojekt ist Xiaomis „Dark Factory“ in Changping bei Peking. Diese Fabrik produziert ein Smartphone in Sekunden, läuft rund um die Uhr vollautomatisiert und benötigt weder Licht noch menschliches Personal – nur ein kleines Wartungsteam ist vor Ort.
Solche Anlagen demonstrieren eindrücklich: Produktion kann heute stabil, energieeffizient und skalierbar betrieben werden. Die Rolle des Menschen verschiebt sich dabei vom Ausführenden zum Gestalter, Steuerer und Optimierer automatisierter Prozesse – ein Paradigmenwechsel, der Industriepolitik und Personalstrategien gleichermaßen beeinflussen muss.
Mit dem Einsatz von Robotik, KI und Systemintegration verändern sich auch die Anforderungen an IT-Kompetenzen in den Unternehmen. Welche Profile sind heute besonders gefragt?
Wir beobachten eine starke Nachfrage nach sogenannten hybriden Profilen. Das sind Fachkräfte, die sowohl ein technisches Verständnis für industrielle Prozesse mitbringen als auch Softwarekompetenzen besitzen. Besonders gefragt sind derzeit Robotik-Ingenieure, Spezialisten für Systems Engineering, Datenanalysten mit Industrieerfahrung, DevOps-Experten in der Produktion sowie KI-Trainer, die lernende Systeme entwickeln und überwachen können.
Auch klassische Instandhalter müssen sich weiterentwickeln, denn moderne Anlagen erfordern zunehmend digitales Verständnis. Unternehmen wie Bosch Rexroth oder Festo bieten mittlerweile gezielte Weiterbildungen für Industrieelektroniker an, die sich zu „Smart Maintenance Specialists“ weiterqualifizieren. Das zeigt: Es geht nicht um den Ersatz, sondern um die Transformation klassischer Berufsbilder.
Gerade der Mittelstand tut sich oft schwer, IT-getriebene Automatisierung praktisch umzusetzen. Wo sehen Sie die größten Hemmnisse – bei der Technologie selbst, bei den Investitionen oder bei den Menschen?
In meiner Erfahrung liegt die größte Herausforderung im strategischen Denken. Viele Mittelständler sehen Digitalisierung noch als Zusatzaufgabe – nicht als integralen Bestandteil des Geschäftsmodells. Es fehlt oft ein übergreifender Plan, wie Prozesse automatisiert, Daten sinnvoll genutzt und Kompetenzen aufgebaut werden können.
Ein typisches Beispiel: Ein Maschinenbauer installiert moderne Sensorik in seiner Fertigungslinie, nutzt aber die entstehenden Daten nicht für prädiktive Wartung oder Prozessoptimierung, weil es an IT-Schnittstellen und Data Literacy fehlt. Technologisch ist vieles machbar, aber ohne passende Kompetenzen und Investitionsbereitschaft bleibt der Effekt aus. Es braucht gezielte Weiterbildungsprogramme, mehr unternehmensweite Lernkultur und vor allem Führungspersönlichkeiten, die digitale Kompetenz nicht nur einfordern, sondern vorleben.
Wie müssen sich Unternehmen organisatorisch und personell aufstellen, um Automatisierung und KI wirklich produktiv einzusetzen – ohne in komplexe IT-Großprojekte zu geraten?
Entscheidend ist ein iterativer Ansatz: Starten, testen, lernen. Ich rate Unternehmen dazu, mit schlanken Piloten zu beginnen, die messbare Vorteile bringen und gleichzeitig Lernprozesse anstoßen. Cross-funktionale Teams aus IT, Produktion, Einkauf und HR können so gemeinsam digitale Use Cases entwickeln und iterativ skalieren. Parallel muss die Organisation offener, vernetzter und agiler werden. Das bedeutet auch: neue Rollen schaffen, klassische Abteilungsgrenzen aufweichen und IT als strategischen Partner etablieren. Wer das schafft, wird nicht nur effizienter, sondern auch attraktiver für neue Talente.
Auch wir bei HAGER setzen auf diesen Weg: In einem crossfunktionalen Team haben wir ein KI-basiertes Matching-System entwickelt, das Suchprofile und Kandidatenprofile intelligenter zusammenbringt. Dadurch konnten wir sowohl die Qualität der Auswahl als auch die Effizienz im Suchprozess deutlich verbessern – ein gutes Beispiel dafür, wie Digitalisierung auch in der Personalberatung konkrete Mehrwerte schafft.
Wenn wir fünf bis zehn Jahre vorausblicken: Wie wird sich das Zusammenspiel von Mensch, KI und Automatisierung in den Wertschöpfungsketten konkret entwickeln?
Ich bin davon überzeugt, dass wir in Richtung einer symbiotischen Arbeitswelt steuern. Maschinen erledigen monotone, repetitive oder hochkomplexe Rechenaufgaben. Der Mensch bringt Kontext, Urteilsvermögen und Kreativität ein. In der industriellen Wertschöpfung bedeutet das: Technische Systeme übernehmen die Ausführung, der Mensch orchestriert, steuert, kontrolliert.
Das erfordert andere Skillsets, andere Ausbildungswege und andere Karrierepfade. Fachkräfte von morgen sind nicht nur Anwender, sondern Architekten und Gestalter von automatisierten Prozessen. In der Praxis heißt das: Wer heute eine Ausbildung im Bereich Mechatronik macht, sollte gleichzeitig Grundlagen der Datenanalyse und Automatisierungstechnologien lernen. Wer Maschinenbau studiert, wird auch mit Softwarearchitektur in Berührung kommen müssen. Diese Schnittstellenkompetenz wird entscheidend.
Autorenvita Martin Krill, CEO
Martin Krill ist seit 2004 geschäftsführender Gesellschafter der HAGER Executive Consulting GmbH und Ansprechpartner sowie Experte für die Bereiche „Digital & Technology“. Als erfahrener Executive-Search-Berater hat er in den letzten 20 Jahren Unternehmen erfolgreich bei der Besetzung anspruchsvoller Führungspositionen unterstützt. Dabei ist es ihm besonders wichtig, dass die Ergebnisse einen echten Mehrwert für alle Beteiligten schaffen. Martin Krill ist seit den 1990er Jahren fest in der IT-Branche verwurzelt. Er hat die Entwicklung von HAGER und die Zusammenarbeit mit Unternehmen aus dieser Branche maßgeblich geprägt.
Das originale Interview finden Sie hier.