Rund 560.000 Fachkräfte in über 250 Berufsbildern werden bis 2035 allein für den Ausbau erneuerbarer Energien gebraucht. Was das für Stadtwerke bedeutet, erklärt Energieexpertin Esther Scharf.

Die Energiewirtschaft steht vor zahlreichen Herausforderungen – vom Netzausbau und -betrieb über den Ausbau erneuerbarer Energien bis hin zu immer komplexeren regulatorischen Anforderungen. Dass Stadtwerke dem durchaus etwas entgegensetzen können, erläutert Esther Scharf, Beraterin in der Abteilung Energiewirtschaft bei HAGER Executive Consulting, im ZfK-Interview.
Esther Scharf ist Beraterin bei Hager Executive Consulting mit Spezialisierung auf die Energiewirtschaft. Ihr besonderes Interesse gilt den Herausforderungen und Chancen der Energiewende sowie dem strategischen Talentaufbau in einem sich dynamisch wandelnden Marktumfeld.
Frau Scharf, wird der Boom in der Energiebranche weiter anhalten und den Personalbedarf antreiben?
Definitiv – denn wir erleben keinen konjunkturellen, sondern einen strukturellen Wandel. Die Energiewende und globale Klimaziele treiben den Umbau ganzer Energiesysteme voran: weg von fossilen, zentralen Strukturen hin zu dezentralen, erneuerbaren und digital gesteuerten Netzen. Das erfordert nicht nur technologische Innovation, sondern eine massive Ausweitung personeller Kapazitäten.
Gesucht werden heute nicht nur klassische Fachkräfte für Planung, Installation und Wartung, sondern zunehmend auch Experten für Speichersysteme, Smart Grids, regulatorische Umsetzung oder Energiemarktdesign. Der volatile Energiehandel verlangt Spezialisten, die in Echtzeit auf Preisschwankungen reagieren können – unterstützt durch IT und Datenanalyse.
Hinzu kommt: Digitalisierung und neue Technologien eröffnen völlig neue Berufsfelder – von IT-Sicherheit über automatisierte Steuerungssysteme bis zur intelligenten Sektorenkopplung. Megatrends wie Elektromobilität und Wasserstoffinfrastruktur bringen weitere Dynamik. Studien wie die des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA) zeigen klar: Der Fachkräftemangel ist eines der größten Risiken für das Gelingen der Energiewende.
Auf welche Daten konkret stützen Sie diese Einschätzung?
Zahlreiche Studien stützen diese Einschätzung. Laut Rödl & Partner wird bis 2029 ein signifikanter Teil der Fachkräfte altersbedingt ausscheiden – mitten in einer Phase massiver Transformation. Die GETI-Studie zeigt, dass nicht nur erfahrene Mitarbeiter verloren gehen, sondern zusätzlich neue Profile für Digitalisierung und Nachhaltigkeit entstehen müssen.
Besonders alarmierend ist die Prognose der DIHK (Prognos AG): Bis 2035 fehlen allein für den Ausbau erneuerbarer Energien rund 560.000 Fachkräfte – in über 250 Berufsbildern. Ohne diese personellen Ressourcen seien die Ausbauziele in den Bereichen Solar, Wind und Wasserstoff kaum erreichbar.
Auch der Investitionsbedarf ist enorm: Die Deutsche Energie-Agentur (dena) und die Bundesnetzagentur gehen von jährlichen Milliardeninvestitionen aus – Gelder, die ohne das passende Personal nicht wirksam eingesetzt werden können. Und regulatorische Vorgaben wie die EU-Taxonomie oder die Bundesförderung für effiziente Gebäude erhöhen den Qualifikationsbedarf zusätzlich. Fazit: Es fehlt nicht an Kapital oder Technik, sondern an Menschen, die den Wandel gestalten können.
Wo sehen Sie die größten Lücken?
Besonders groß ist die Lücke bei technischen Fachkräften wie Elektroingenieuren, Netzplanern und IT-Spezialisten. Aber auch regulatorische Expertise, Projektmanagement-Erfahrung und Transformationskompetenz im Vertrieb sind stark gefragt. Zudem wächst der Bedarf an digitalen Kompetenzen: Für dezentrale Systeme sind Datenanalyse, Automatisierung und Cybersecurity essenziell. Neue Berufsbilder entstehen – etwa Data Scientists, die Marktanalysen automatisieren, oder IT-Sicherheitsexperten, die kritische Infrastruktur schützen. Auch Analysten für Smart-Grids oder Wetterdaten sind stark gefragt.
Laut Fraunhofer ISE ist die Energiewende vor allem eine Wissenswende. Nur mit qualifiziertem Personal lassen sich technologische und strukturelle Anpassungen erfolgreich umsetzen. Hier liegen die größten Herausforderungen – aber auch enorme Chancen für Unternehmen mit klarem Kompetenzaufbau.
Start-ups bieten häufig gerade für diese Berufsgruppen attraktive Rahmenbedingungen. Können etablierte Unternehmen da mithalten?
Etablierte Unternehmen brauchen ein klares Selbstverständnis als moderne, werteorientierte Arbeitgeber. Dazu gehört eine offensive Personalstrategie mit gezieltem Employer Branding und aktivem Recruiting. Das bedeutet konkret: Öffnung für internationale Fachkräfte, Teilzeitmodelle, Young Professionals und Quereinsteiger. Gerade in der Energiewirtschaft lassen sich Kompetenzen aus anderen Branchen – etwa IT oder Bauwesen – gewinnbringend integrieren.
Ein unterschätzter Hebel ist ebenfalls das Onboarding: Wer neue Mitarbeitende individuell integriert und früh fördert, stärkt Bindung und Motivation. Wichtig sind zudem flexible Rahmenbedingungen, Homeoffice-Optionen und ein echtes Verständnis für Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – heute Standarderwartungen.
Wesentlich ist auch die Weiterbildungsstrategie: Sie sollte nicht nur reaktiv, sondern vorausschauend angelegt sein. Wer heute gezielt entwickelt, sichert morgen Wettbewerbsfähigkeit. Schließlich entscheidet auch die Recruiting-Erfahrung: Schnelligkeit, Transparenz und Authentizität im Bewerbungsprozess sind heute entscheidende Kriterien.
Welche besonderen Stärken sehen Sie dabei bei den Stadtwerken?
Stadtwerke haben große Potenziale, die oft unterschätzt werden. Ihre regionale Verwurzelung, hohe Arbeitsplatzsicherheit und Nähe zur Bevölkerung sind zentrale Stärken. Gerade in unsicheren Zeiten suchen viele Fachkräfte Stabilität und Sinn – genau das bieten Stadtwerke. Sie vereinen gesellschaftliche Relevanz mit technischer Zukunftsfähigkeit. Wer bei einem Stadtwerk arbeitet, trägt aktiv zur Energiewende bei – etwa beim Ausbau lokaler Erzeugung, bei Ladeinfrastruktur oder bei der Digitalisierung der Netze.
Zudem ermöglichen Stadtwerke durch ihr breites Leistungsspektrum vielfältige Karrierepfade. Sie kennen die Herausforderungen ihrer Region und können passgenaue Lösungen entwickeln – das bietet nicht nur Sinn, sondern auch Gestaltungsspielraum. Stadtwerke haben viel zu bieten – sie sollten es nur noch aktiver und strategischer vermitteln.
Können Digitalisierung, Automatisierung und moderne Arbeitsmodelle helfen, den Fachkräftemangel abzufedern und zugleich die Energiewende zu beschleunigen?
Ja – und das auf mehreren Ebenen. Digitalisierung entlastet Personal durch die Automatisierung repetitiver Aufgaben. Netzsteuerung, Wartung oder Lastmanagement lassen sich zunehmend vorausschauend und effizient organisieren.
Zugleich entstehen neue Berufsfelder: Virtuelle Kraftwerke (VPPs), Blockchain-basierter Energiehandel und KI-gestützte Lernplattformen zeigen, wie tiefgreifend sich die Branche verändert. Laut McKinsey wird ein erheblicher Teil der Aufgaben in der Energiewirtschaft bis 2030 automatisiert. Moderne Arbeitsmodelle wie Remote Work, Teilzeit oder projektbasiertes Arbeiten erweitern zudem den verfügbaren Talentpool – insbesondere in strukturschwachen Regionen. Wer Technologie und moderne Arbeitskultur zusammendenkt, schafft doppelte Hebelwirkung.
Das Interview führte Boris Schlizio. Das originale Interview finden Sie hier.