
28.07.2025, Artikel aus dem Fachmagazin CIO.de
Um internationale Top-Talente anzulocken, braucht es nicht nur einen guten Arbeitsvertrag, sondern Haltung, Glaubwürdigkeit und gelebte Vielfalt.
In den Vereinigten Staaten zeichnet sich ein folgenreicher Paradigmenwechsel ab: Die einstige Wissenschaftsnation Nummer eins verliert das Vertrauen ihrer eigenen Forscherinnen und Forscher.
Restriktive Eingriffe in die Autonomie von Elite-Universitäten, eine zunehmend unsichere Visapraxis und Kürzungen bei Forschung und Lehre lassen viele Wissenschaftlerinnen, IT-Experten und Tech-Talente an der Zukunft des Standorts zweifeln. Die Auswirkungen sind international spürbar – und Europa beginnt, darauf zu reagieren.
Ein geopolitischer Bruch mit globaler Wirkung
“Was wir aktuell in den USA erleben, ist ein historischer Bruch”, sagt Martin Krill, CEO der auf Executive Search spezialisierten Hager Executive Consulting GmbH. “Wenn Wissenschaftler aus Angst vor Repressionen Zuflucht in Europa suchen, dann geht es nicht nur um Forschung – sondern um den Schutz von Innovation, Aufklärung und demokratischer Kultur.”
Tatsächlich lässt sich eine neue Dynamik beobachten: Frankreich wirbt mit Programmen wie “Choose Europe for Science” gezielt um internationale Forschende. An der Universität Aix-Marseille gingen innerhalb weniger Wochen rund 600 Bewerbungen auf 20 ausgeschriebene Stellen ein. Auch andere europäische Staaten legen neue Visa- und Standortoffensiven auf. Damit entsteht ein einmaliges Momentum, das Politik und Wirtschaft gleichermaßen fordert.
Was die Politik jetzt leisten muss
Damit sich dieses Potenzial entfalten kann, sind politische Akteure gefragt. Unternehmen allein können die strukturellen Hürden bei Visa, Anerkennungsverfahren und Förderprogrammen nicht beseitigen. Es braucht:
- beschleunigte Visa-Verfahren für Hochqualifizierte,
- standardisierte Anerkennung internationaler Abschlüsse,
- gezielte finanzielle Anreize für forschungsnahe Unternehmen,
- und nicht zuletzt ein klares Signal an internationale Fachkräfte, dass Europa ein verlässlicher Partner ist.
“Damit das im größeren Stil funktioniert, brauchen wir auch auf politischer Ebene Tempo”, betont Axel Zein, CEO des Softwareunternehmens WSCAD. “Sonst verpufft dieses historische Momentum.”
Was CIOs konkret tun können – und sollten
Gleichzeitig liegt es in der Verantwortung der Unternehmen – und insbesondere der CIOs –, die eigenen Strukturen auf internationale Talente auszurichten. Anders als politische Prozesse lassen sich interne Weichenstellungen oft kurzfristig und wirksam verändern.
Zein schildert die Situation in seinem Unternehmen: „Wir suchen seit Jahren intensiv nach hochqualifizierten Softwareentwicklern und Systemarchitekten – aber der Markt ist wie leergefegt. Die klassischen Recruiting-Kanäle funktionieren kaum noch.“
Deshalb beobachte man bei WSCAD sehr genau, was derzeit in den USA passiert. „Wenn hochprofessionelle IT-Fachkräfte wegen politischer Unsicherheit, Visa-Restriktionen oder Forschungskürzungen ins Ausland gehen, dann müssen wir in Europa bereit sein, sie nicht nur aufzunehmen, sondern auch zu integrieren.“
1. Zusammenarbeit mit HR intensivieren: Die gezielte Ansprache internationaler Talente erfordert eine abgestimmte Strategie – von Stellenausschreibungen über Onboarding-Prozesse bis hin zu kulturellem Mentoring. CIOs sollten sich aktiv in diese Prozesse einbringen.
2. Employer Branding international denken: Haltung, Offenheit und Innovationsgeist müssen sichtbar kommuniziert werden – nicht nur über Karriereseiten, sondern auch in Netzwerken, auf Konferenzen und über Mitarbeitende als Botschafter.
3. Internationale Recruiting-Kanäle nutzen: Universitäten, Visa-Programme, Plattformen wie LinkedIn oder GitHub – wer gezielt in den Austausch mit internationalen Communities investiert, erweitert seinen Zugriff auf qualifizierte Kandidaten.
4. Technologische Freiräume schaffen: „Wer heute Top-IT-Talente aus dem Ausland gewinnen will, muss mehr bieten als ein gutes Gehalt“, so Zein. „Motivierte Talente wollen Dinge bewegen. Wir brauchen weniger Vorschriften und Bürokratie – und mehr pragmatische Prozesse.“
5. Integrationsstrukturen bereitstellen: Sprachkurse, Hilfe bei Wohnungssuche, interkulturelle Angebote – all das lässt sich intern oder mit Dienstleistern organisieren. Entscheidend ist, dass es konkret und erreichbar ist.
Haltung statt nur Vertrag: Was internationale Talente erwarten
Diese Offenheit beginnt nicht erst im Bewerbungsgespräch. Sie zeigt sich in der Art, wie ein Unternehmen über sich spricht, welche Haltung es in gesellschaftlichen Fragen einnimmt, wie inklusiv es denkt. “Top-Talente wandern nicht wegen eines besseren Lohns – sie suchen Haltung, Klarheit und Perspektive”, betont Tobias Dietze, Geschäftsführer der DIEPA Personal GmbH. “Wer als Unternehmen heute global rekrutieren will, muss mehr bieten als einen Arbeitsvertrag: nämlich eine Haltung zur Welt, die Menschen überzeugt, zu bleiben.”
Auch die externe Wahrnehmung spielt eine Rolle. Unternehmen, die Diversität nicht nur proklamieren, sondern aktiv leben, gewinnen nicht nur Vertrauen, sondern Glaubwürdigkeit. In Zeiten politischer Unsicherheiten weltweit wird diese Glaubwürdigkeit zum Standortvorteil – insbesondere für international vernetzte Tech-Talente, die nach einem stabilen, fortschrittlichen Umfeld suchen.
CIOs als Wegbereiter internationaler Anschlussfähigkeit
CIOs können entscheidende Impulse setzen, um ihre Organisation international anschlussfähig zu machen – technologisch, organisatorisch und kulturell. Ihr Einfluss beginnt im Inneren der Organisation: bei Prozessen, die internationale Kandidaten nicht ausbremsen, bei Teams, die offen für neue Denkweisen sind, und bei Technologien, die vernetztes Arbeiten über Ländergrenzen hinweg fördern.
Martin Krill formuliert es so: “Der Wettlauf um F&E-Talente wird in den nächsten Jahren nicht in Labors entschieden, sondern in Vorstandsetagen.” Wer jetzt handelt, kann aktiv dazu beitragen, dass Europa mehr ist als ein sicherer Hafen für verunsicherte Talente: nämlich ein Innovationsmotor.
Diese Rolle bedeutet auch, langfristige Allianzen zu schließen – mit Bildungsträgern, Städten, Ministerien oder anderen Unternehmen. Der Aufbau von Talentökosystemen ist keine Aufgabe für Einzelkämpfer. Je sichtbarer CIOs hier auftreten, desto stärker wird ihr Einfluss auf die zukünftige Innovationsfähigkeit Europas.
Fazit: Jetzt ist die Zeit zu handeln – im eigenen Wirkungsbereich
Wer heute international rekrutieren will, braucht nicht nur Ressourcen, sondern Haltung, Geschwindigkeit und kulturelle Offenheit. Die globale Talentsuche ist längst nicht mehr nur eine Frage der HR-Performance – sie ist ein Gradmesser für Innovationsfähigkeit. CIOs können diese Entwicklung gezielt vorantreiben: im Schulterschluss mit HR, mit klarer Kommunikation, mit flexiblen Arbeitsmodellen und mit echtem Willen zur Integration.
Die strukturellen Rahmenbedingungen muss die Politik liefern. Die praktische Umsetzung beginnt im Unternehmen – und damit bei den CIOs. (jd)
Zum Original-Artikel: https://www.cio.de/article/4027194/tech-talente-im-umbruch-warum-cios-jetzt-handeln-muessen.html