Die Politik setzt auf Waffen als Wirtschaftsmotor. Doch Sicherheitsauflagen, Lieferketten und Kulturclash machen den großen Umbau zur riskanten Wette. Kann Deutschlands Industrie so wirklich gerettet werden?

Deutschlands Industrie steckt in einer Spirale nach unten: kriselnde Autobauer, bröckelnde Lieferketten, tausende Jobs auf der Kippe. Aber es gibt auch das: volle Auftragsbücher bei Rüstungsfirmen, weil Milliarden aus neuen Schulden, die der Bund aufgenommen hat, hier landen. Kann also das Sonderprogramm Rüstung die Industrie vor dem weiteren Absturz retten?
Satte 36 Prozent Umsatzsteigerung auf 14,9 Milliarden Dollar verzeichneten die deutschen Rüstungskonzerne im vergangenen Jahr, teilt das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri in seinem neusten Bericht mit. Nachgefragt sind angesichts der Bedrohung aus Russland bodengestützte Luftabwehrsysteme, Munition und gepanzerte Fahrzeuge.
Die Hoffnung ist also da. Die Zauberformel heißt „Dual Use“. Die Vision sieht so aus: Aus Autofabriken sollen Waffenwerke werden, statt des Passats soll der Panzer vom Band rollen. Das klingt nach Rettung für die angeschlagene Industrie. Kann es funktionieren?
Panzer statt Passat
In Berlin sieht es so aus, als sei die Frage bereits beantwortet. Dort wird diese Fantasie bereits wie eine Realität gehandelt. Verteidigungsminister, Wirtschaftsminister, Kanzleramt – alle reden von „Zeitenwende“, „Resilienz“ und „industrieller Souveränität“. Die Industrie soll liefern.
Volkswagen wird immer wieder als Blaupause gehandelt: Warum nicht ein Teil der Autoindustrie in Rüstung überführen? Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bringt den politischen Druck auf den Punkt: „Die aktuelle Bedrohungslage erfordert, dass wir Schlüsseltechnologien in Deutschland fördern.“ Klingt logisch, ist aber grob verkürzt.
Auch Friedrich Merz denkt offen in militärischen Kategorien. Sein Satz ist Programm: „Wir planen, 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung in Infrastruktur zu investieren, die militärisch nutzbar ist.“ Merz markiert damit die politische Marschrichtung: Straßen, Brücken, Fabriken – alles soll im Zweifel kriegstauglich sein.
Programme helfen wenig
Doch die Werkshallen sehen anders aus als die politischen Folien. Daniel Norpoth kennt die Autobranche auswendig. 17 Jahre war er bei VW für Personaldienstleistungen verantwortlich, heute ist er Partner beim Personalberater Hager Executive Consulting. Sein Urteil fällt nüchtern aus: „Es gibt viele Hemmnisse eine Industrie, die im Abbaumodus ist, dazu zu bewegen, ehemalige Soldaten einzustellen.“
Norpoth verweist auf existierende Programme, die bislang wenig geholfen haben: So können schon jetzt Soldaten, die in Unternehmen gehen, ein Jahr ihren Lohn vom Staat bekommen. Die Unternehmen erhalten darüber hinaus bis zu 15000 Euro Eingliederungshilfen.
Der Staat lockt also mit Geld. Die Realität bleibt dennoch zäh: Nur 17 Prozent der Soldaten, die nach ihrer Dienstzeit bei der Bundeswehr in die Wirtschaft wechseln, landet in der Industrie. Der weitaus größere Teil geht in den öffentlichen Dienst.
Umbau läuft schleppend
Ja, es gibt erste Versuche zu kombinierten Industrien: Der krisengebeutelte Getriebehersteller ZF ist an Militärprojekten beteiligt. Der schwäbische Maschinenbauer Voith baut Schiffsantriebe für Fregatten. Lkw-Hersteller testen militärische Varianten. Start-ups entwickeln autonome Systeme für die Bundeswehr. Aber richtig in Gang gekommen ist der Umbau bisher nicht. Wo klemmt es?
Das Kernproblem für die Betriebe lautet: Rüstung ist nicht einfach eine andere Produktlinie, sondern eine andere Welt. „Es gibt für Rüstungsbetriebe ganz andere Sicherheitsanforderungen als für zivile Betriebe. Die Werke können nicht offenstehen. Dass Zulieferer ein- und ausgehen, ist völlig undenkbar. Das ist aber bei Autoherstellern der Standard“, sagt Norpoth. Autofabriken funktionieren wie Markthallen, Rüstungsbetriebe wie Hochsicherheitstrakte.
Noch härter ist der Bruch bei den Lieferketten. „Die Lieferketten sind völlig anders. In der Rüstungsindustrie wird bis zur letzten Schraube alles selbst gebaut“, berichtet Norpoth. Die Autoindustrie lebe dagegen von globalen Netzwerken, von Just-in-Time, von Zulieferern aus aller Welt. Hier herrscht Massenproduktion im Sekundentakt, dort Präzisionsarbeit unter Daueralarm. Wer das eine System ins andere überführen will, betreibt also keinen Umbau, sondern einen radikalen Neuaufbau.
Industrie braucht Planungssicherheit
Dazu kommt das Risiko, über das in Berlin kaum jemand spricht: Planungssicherheit. Ein Autobauer produziert ein Modell, während er das nächste bereits plant und in etwa einschätzen kann, wieviel er davon verkaufen wird. Ein Rüstungsunternehmen braucht staatliche Aufträge. Wenn sie abgearbeitet sind, endet die Produktion. „Auch die jetzigen Investitionen in Verteidigungsgüter sind irgendwann aufgebraucht. Was passiert dann?“, fragt der Personalberater. Autos verkauft der Markt. Waffen bestellt der Staat. Und wenn der Staat stoppt, steht die Fabrik.
Norpoths Fazit ist wie kaltes Wasser ins Gesicht aller Umbau-Romantiker: „Ich bin misstrauisch. Ich glaube nicht daran, dass sich eine Leitbranche in Deutschland komplett verändern lässt. Etwas vergleichbares hat es noch nie gegeben. Es wird ein sehr großer Kraftakt sein, die heutige Automobilbranche komplett zu kompensieren.“
Es gibt weitere kritische Stimmen. Die von Christian Growitsch etwa vom Hamburg Institute for Innovation, Climate Protection and Circular Economy. Er hält die politischen Vorstellungen für gefährlich naiv. „Seit 1990 haben wir in Deutschland das Thema Verteidigung nur verwaltet und nicht dynamisch weiterentwickelt.“
Deswegen sei die Situation deutlich anders als etwa in den USA oder Israel, wo Militär, Wissenschaft und Industrie seit Jahrzehnten verzahnt sind. Dort entstanden aus Militärprojekten Dinge wie das Internet. Deutschland dagegen hat weggeschaut und seine „Friedensdividende“ verzehrt.
Paradox der Rüstungsindustrie
Growitsch spricht ein weiteres Tabu an: „Marktgetriebene Unternehmen sind in der Regel innovativer als solche, die von staatlichen Aufträgen leben.“ Rüstungsindustrie lebt vom Haushaltsausschuss, nicht vom Wettbewerb. Und sie folgt einem Paradox: „Ökonomisch gesehen ist die Rüstungsindustrie schizophren: Sie stellt Güter her, mit deren Produktion erreicht werden soll, dass genau diese Güter nicht gebraucht werden.“
Der wahre Wert entsteht nur, wenn Technologien aus der Rüstungsindustrie in die zivile Welt überschwappen. „Dazu brauchen wir jedoch ein Zielbild in Deutschland, das wir derzeit nicht haben.“
Hochschulen verbieten militärische Forschung
Und dann ist da noch die Wissenschaft. Mehr als 70 Hochschulen im Land haben sich zur sogenannten „Zivilklausel“ verpflichtet und sich damit Forschung, die militärisch genutzt werden kann, selbst verboten. Genau daran rüttelt inzwischen die Politik. Forschungsministerin Dorothee Bär (CSU) fordert offen: „Ich bin grundsätzlich dafür, die sogenannten Zivilklauseln an Hochschulen zu überdenken – um Frieden heute zu sichern können wir es uns nicht leisten, Gedanken und Forschung zu beschränken.“
Bär denkt also politisch weiter, während Forschung und Industrie in der Wirklichkeit feststecken. Deutschland kann seine zivile Industrie nicht einfach in eine Kriegswirtschaft umbauen, weil Sicherheitsanforderungen, Unternehmenskulturen, Lieferketten und Planungslogiken zu verschieden sind. Der Umbau wird langsamer, teurer und kleiner ausfallen, als viele versprechen. Er wird damit nicht die Millionen Jobs retten, die heute auf dem Spiel stehen. Die unbequeme Wahrheit: Dual Use ist kein Allheilmittel, sondern ein riskanter Drahtseilakt. Wer glaubt, man könne eine ganze Leitbranche einfach neu etikettieren, verwechselt Industriepolitik mit Wunschdenken.
Mehr zu Daniel Norpoth.
Ein Artikel von Oliver Stock | Erschienen in Focus online und Business Punk


